Liebe Vergangenheits-Melly,
es ist jetzt 2017. Das heißt, bald ist es zehn Jahre her, dass wir unser Abitur gemacht haben. Vor zehn Jahren wusstest du schon ganz genau, wie es für dich weiter gehen sollte. Du würdest dich an der Dortmunder Uni in Statistik mit dem Nebenfach Theoretische Medizin einschreiben und nach einem erfolgreichen Studium in die medizinische Forschung gehen. Da wolltest du hin. Eigentlich wolltest du dafür gerne Biologie studieren, aber von einigen Seiten wurde dir davon abgeraten. Aufgrund deiner Behinderung könntest du keine Experimente selbst durchführen, das wäre doch frustrierend und langweilig. Obwohl du schon damals Gegenbeispiele kanntest, haben dich die Zweifel der anderen verunsichert und du wolltest schließlich mit Statistik einen alternativen Weg gehen.
Das war auch keine schlechte Idee! Du wirst noch sehen, dass Umwege auch sehr erfüllend sein können und in jedem Fall immer bereichern. Nach nur wenigen Wochen der Statistik wurde aber klar, dieser Weg ist nicht deiner. Du hast von der Uni-Mathematik so wenig verstanden und der Gedanke, dich mindestens drei Jahre lang damit beschäftigen zu müssen, bereitete dir innerliche Schmerzen. Du fühltest dich als Versagerin. Jeder hat dir das Studium zugetraut und nun würdest du all diese Menschen enttäuschen und ihnen sagen müssen, dass du zu dumm bist. Nein, Vergangenheits-Melly, das hat nichts mit Versagen oder Dummheit zu tun. Bei den vielen Möglichkeiten, die man nach dem Abi hat, ist es völlig in Ordnung, etwas auszuprobieren und festzustellen, dass es das nicht ist. Deine Entscheidung gegen die Statistik war genau richtig. Du hättest dich nur gequält und dabei so viel schönes im Leben verpasst.
Nun war also klar, mit Statistik geht es nicht weiter. Was dann? In deiner freien Zeit direkt nach dem Abi hattest du ein neues Hobby für dich entdeckt: Webseitengestaltung. Du wusstest aber, dass du bei weitem nicht gut genug warst, um bei einem Design-Studium die Aufnahmeprüfung zu schaffen. Also hast du wieder nach verwandten Studiengängen gesucht. Bei der Suche hast du den Studiengang Online-Redakteur in Köln entdeckt. Der hat dich gleich in vielerlei Hinsicht angesprochen. Du würdest dort Webdesign und Webprogrammierung lernen und geschrieben hast du schon immer gerne (Speichere unbedingt Aquantansia doppelt oder dreifach, ein Virus wird die Geschichte sonst zerstören!). Und das beste: Du könntest zurück ins Rheinland, wo deine Assistenz nicht im Drei-Schichtsystem laufen müsste.
Enthusiastisch und voller Motivation bist du dann in den zweiten Studienversuch gestartet. Spoiler: Das war’s auch nicht. Das erste Semester hat dir noch sehr gut gefallen. Es gab viele praktische Inhalte, die du gut umsetzen würdest. Doch in deinem Praktikum in den ersten Semesterferien kam die erste große Ernüchterung. Du hattest nicht nur ewig nach einem Praktikumsplatz gesucht, die Redaktion, in die es dich dann verschlagen hat, erfüllte auch noch alle Beispiele einer schlechten Online-Redaktion. Erste Zweifel stiegen in dir auf, ob das wirklich das ist, was du in Zukunft machen möchtest. Kurz vor Ende des Praktikums dann auch noch ein privater Tiefschlag: dein Papa hatte einen Schlaganfall. Du bist stark, versuchst so gut du kannst, auf eigenen Beinen zu stehen und deine Mama zu entlasten, aber du brauchst lange, um das richtig zu verarbeiten.
Vom zweiten Semester hast du nicht viel mitbekommen. Du bist in die Uni gegangen, hast dort deine Zeit abgesessen, aber viel hängen geblieben ist nicht. Und trotzdem waren diese Anwesenheitstage schon unheimlich anstrengend für dich und du lebtest nur noch an den Wochenenden. Deshalb hattest du am Ende des Semesters einen Termin bei der Studiengangsleitung, um deinen weiteren Studienverlauf zu planen. Es stand immer fest, dass du erfolgreich studieren würdest und einmal hattest du schon abgebrochen, also musste das doch jetzt klappen. Ihr habt besprochen, dass du dich erstmal von der großen Klausur abmeldest und im nächsten Semester nicht dem ganzen Stundenplan folgst.
Mit neuem Mut bist du in das nächste Semester gestartet, doch irgendwie hat dich das Studium nicht mehr richtig packen können. Der Gedanke, dass das System Studium nicht zu dir passt, wurde immer lauter und lauter bis du an den Punkt gelangt bist, wo du dir gesagt hast: „Okay, dann suchst du dir eben einen Ausbildungsplatz!“ Das Studium hast du trotzdem noch in reduzierter Form weitergeführt, da du wusstest, dass du es mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz sehr schwer haben würdest.
Du wolltest eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich beginnen. Dein Ziel war damit dann später an einem Theater oder zumindest irgendwo im Bereich kulturelle Veranstaltungen zu landen. Du hast dich deshalb lange Zeit nur auf sehr spezifische Ausbildungen für diesen Bereich beworben. Erfolgreich warst du mit der Taktik nicht und so wurde absehbar, dass du das Studium abbrechen musstest, bevor du einen Ausbildungsplatz hattest. Glücklicherweise hast du von der einjährigen Höheren Handelsschule für Abiturienten gehört und dich im Anschluss an das Studium erstmal dort angemeldet.
Die Zeit auf der Höheren Handelsschule hat dir gut getan. Du hast gemerkt, dass die kaufmännischen Inhalte dir Spaß machen und du hast endlich wieder etwas richtig gekonnt. Schnell hast du festgestellt, dass Schule und Praxis der richtige Weg für dich sein werden. Da die Zeit drängte, hast du dich mittlerweile entschieden, dich auch auf allgemeinere Ausbildungen wie Industrie- oder Bürokauffrau zu bewerben. Dein Plan war, dich nach der Ausbildung dann weiter zu qualifizieren und quer in den Veranstaltungsbereich einzusteigen.
Etwas mehr als zwei Jahre nach deiner ersten Bewerbung für einen Ausbildungsplatz, hast du eine Zusage bekommen. Der DAAD würde dich zur Bürokauffrau ausbilden. Du warst überglücklich, endlich nicht mehr bangen zu müssen. Obwohl der DAAD als „sowas wie eine Behörde“ eigentlich so gar nicht deinem Ziel entsprach, hast du dich auf die Ausbildung gefreut und konntest den Start gar nicht abwarten. Als es endlich los ging, wurdest du als erste Ausbildungsstation in einem sehr lieben Team eingesetzt, das dich vorbildlich aufgenommen und angeleitet hat. Du hast dich von Anfang an sehr wohl gefühlt und warst nach all der Zeit endlich „angekommen“. Es folgten auch ein paar langweilige Einsätze, wo du monatelange Adressen hin und her kopieren musstest, aber die Zeiten hast du gut überstanden. Zum Ende deiner Ausbildung hat dich das erste Team dann angefordert, dort solltest du nach deiner Ausbildung eingestellt werden. Das war für dich das perfekte Ende eines sehr langen Weges.