Die gut gemeinte Phrase
„Barrierefreiheit ist wichtig, sie hilft ja auch allen anderen.“
Diesen Satz höre ich oft, wenn es um Barrierefreiheit in Games geht. Und ja, er klingt erstmal gut. Vielleicht sogar unterstützend. Schließlich ist es doch schön, wenn mehr Menschen von etwas profitieren. Untertitel sind hilfreich, wenn der Fernseher leise und die Umgebung zu laut ist. Große Schrift erleichtert das Lesen auf dem Handheld. Eine Ein-Hand-Steuerung ist praktisch, wenn die Hand gerade in der Chipschüssel steckt.
Aber je öfter ich diesen Satz höre, desto mehr stört er mich. Natürlich stimmt das schon im Grunde, aber er weist auf ein Problem hin, das vielen gar nicht bewusst ist: Barrierefreiheit wird oft erst dann akzeptiert, wenn sie auch der Mehrheit etwas bringt. Als müsste sie sich rechtfertigen, als müsste sie für alle gut sein, um für einige legitim zu sein.
Was steckt hinter der Aussage?
Die Idee, dass etwas für alle nützlich sein muss, ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Wir lernen früh: Je mehr Menschen etwas brauchen, desto „sinnvoller“ ist es. Und je exklusiver etwas erscheint, desto eher wird es hinterfragt. Genau das passiert bei Barrierefreiheit auch. Wenn ich sage, dass ich ein bestimmtes Feature brauche, ist die erste Reaktion selten „Na klar, logisch.“ Entweder höre ich: „Für so eine kleine Zielgruppe lohnt sich der Aufwand doch gar nicht.“ Oder aber es heißt: „Ach cool, das hilft mir auch manchmal!“ – und plötzlich ist es in Ordnung.
Das klingt vielleicht erstmal nett, aber diese Argumentation verschiebt den Fokus. Statt zu sagen: „Du brauchst das, also bauen wir das ein“, heißt es: „Wir brauchen das ja alle irgendwie, also lohnt es sich.“
Die Daseinsberechtigung hängt dann nicht mehr am Bedarf, sondern am Nutzwert für die Mehrheit. Accessibility wird durch Quality-of-Life gerechtfertigt – und verliert damit ihren eigentlichen Kern.
Warum ist diese Denkweise problematisch?
Das Problem an dieser Denkweise ist, dass sie das Ziel verschiebt. Wenn Barrierefreiheit nur dann akzeptiert wird, wenn sie allen nützt, stellt sich automatisch die Frage: Was passiert mit den Features, die nur einigen helfen?
Die Antwort kennen viele von uns leider nur zu gut: Sie werden gestrichen. Weil sie angeblich zu speziell sind. Zu aufwendig. Zu wenig „relevant“. Das trifft vor allem auf Funktionen zu, die nur Menschen mit bestimmten Behinderungen nutzen – wie Eye-Tracking, Ein-Tasten-Steuerung oder vollständige Menü-Narration. Features also, die für viele den Unterschied machen zwischen spielbar und nicht spielbar.
Wenn wir Barrierefreiheit nur über den Umweg „hilft auch der Mehrheit“ legitimieren, bleibt die Frage offen: Was ist mit den Spieler*innen, für die es eben nicht „nice to have“, sondern „need to play“ ist?
Und genau hier liegt das eigentliche Problem: Die Berechtigung wird an der Zahl der Nutzenden gemessen und nicht an der Bedeutung für die Einzelnen.
Der Perspektivwechsel
In Spielen werden ständig Features eingebaut, die sich ausschließlich an nicht-behinderten Menschen richten. Zum Beispiel künstlerische, extrem verschnörkelte Schriften. Oder Steuerungsoptionen, die feinmotorische Präzision voraussetzen. Das wird nicht hinterfragt – es gilt als „normales Game Design“.
Aber sobald ein Feature in erster Linie behinderten Menschen hilft, wird es plötzlich zu einem Diskussionspunkt: Lohnt sich das? Nutzt das auch anderen? Wie viele profitieren denn wirklich davon?
Das zeigt eine Schieflage: Der Maßstab ist nicht neutral. Mehrheiten müssen sich nicht rechtfertigen. Minderheiten schon.
Barrierefreiheit darf aber auch existieren, wenn sie nur mir hilft. Oder nur einem kleinen Teil der Spielenden. Das ist kein Luxus, sondern Teil fairer Spieleentwicklung.
Denn entscheidend ist nicht, wie viele ein Feature nutzen, sondern wer ohne dieses Feature draußen bleibt.
Der Weg zu echter Inklusion
Wenn wir echte Inklusion wollen, müssen wir uns von dieser ständigen Kosten-Nutzen-Abwägung bei Barrierefreiheit verabschieden. Accessibility ist kein Extra, das sich erst lohnt, wenn es möglichst vielen etwas bringt. Sie ist eine Haltung, eine Grundvoraussetzung dafür, dass alle mitspielen können.
Das bedeutet auch: Wir müssen anerkennen, dass nicht jedes Feature für alle sein muss. Es ist vollkommen okay, wenn manche Funktionen nur einen kleinen Teil der Community betreffen.
Denn genau dieser Teil hat oft kaum Alternativen, während andere meist mit der Standardlösung weiterkommen.
Wir brauchen also einen Perspektivwechsel: Nicht „Wie viele profitieren davon?“, sondern „Wen schließen wir sonst aus?“
Barrierefreiheit darf unbequem sein, darf Aufwand bedeuten, denn sie sorgt dafür, dass Menschen überhaupt Zugang bekommen. Und das sollte Grund genug sein, sich damit auseinandersetzen zu wollen.
Mein Fazit
Ich erwarte von der Gaming-Welt, dass Barrierefreiheit nicht mehr als Bonus gilt, sondern als selbstverständlicher Teil guter Spielentwicklung. In der Features nicht ständig ihren „Mehrwert für alle“ beweisen müssen, um als legitim zu gelten. Und in der es reicht, wenn etwas einfach nur den Zugang ermöglicht. Ganz ohne Extra-Applaus.
Denn ich bin nicht auf der Suche nach Sonderlösungen oder nach Mitleid. Ich will einfach nur spielen – so wie alle anderen auch.
Und dafür braucht es manchmal Funktionen, die eben nicht „allen helfen“, sondern einigen den Weg frei machen. Denn das ist genauso wichtig.